„Erst durch Fühlen setzt sich das Bild zusammen“

Nachricht Hannover, 01. Februar 2023

Die erste inklusive Fühlbibel ist erschienen

Angela Grimm und Andreas Chrzanowski zeigen die Fühlbibel mit der Geschichte von Jona und dem Wal. Fotos: Andrea Hesse

„Blinde Kinder setzen erst durch das Fühlen ihr Bild von der Welt zusammen“, sagt Pastor Andreas Chrzanowski. „Es reicht nicht, ihnen Geschichten vorzulesen oder zu erzählen; es braucht auch das haptische Erlebnis, um Bilder im Kopf entstehen zu lassen.“

Seit etwa vier Jahren schon beschäftigt sich der Theologe mit dem Wunsch, eine inklusive Fühlbibel auch für blinde und sehbehinderte Kinder zu entwickeln. Ihren Ausgangspunkt hatte die intensive Beschäftigung mit dem Thema noch in der Zeit, als er Beauftragter für Blinden- und Sehbehindertenseelsorge am Zentrum für Seelsorge und Beratung (ZfSB) in Hannover war; mittlerweile ist Chrzanowski Leiter der Hildesheimer Blindenmission. Und er ist nicht allein mit seinem Wunsch: Erste Ideen entwickelte der blinde Seelsorger gemeinsam mit Religionslehrerin Sarah Affeldt, die in der Frühförderung blinder Kinder tätig ist; gemeinsam wählten sie die biblische Geschichte von Jona und dem Wal aus. Die Geschichte des Propheten Jona, der vor einem Auftrag Gottes zunächst davonläuft, sei gut geeignet, erklärt Chrzanowski: Sie spricht Kinder emotional an, lässt sich reduzieren, ohne ihre Aussage zu verlieren und bietet Bilder, die nicht nur angeschaut, sondern auch erfühlt werden können.

In der Umsetzung arbeitete Chrzanowski mit Pfarrerin Barbara Brusius vom Dachverband evangelische Blinden- und Sehbehindertenseelsorge, dem blinden Theologen Reiner Delgado und Sonderpädagogin Lea Schwenk zusammen. „In diesem Team mit zwei sehenden und zwei blinden Menschen habe wir viele intensive Diskussionen geführt“, erzählt Chrzanowski. Besonders intensiv wurde diese Diskussion bei der Auswahl des Stoffes, der das Meer fühlbar macht – die sehenden hatten hier ganz andere Erwartungen als die blinden Beteiligten.

Viele Gespräche gab es auch zur Reduzierung des biblischen Textes: Da die Fühlbibel ein inklusives Buch ist, verwendet sie in parallelen Sätzen sowohl Schwarzschrift als auch Blindenschrift. Da die Braille-Schrift deutlich mehr Raum braucht, wurde die Geschichte gekürzt und neu formuliert. Alle Bilder wurden zunächst farbig gedruckt, anschließend wurde in mehreren Lagen so genannter Blindenlack aufgetragen, der sich deutlich angenehmer anfühlt als herkömmlicher Kunststoff. „Dabei mussten wir immer wieder die Frage klären, wie kleinteilig die Bilder sein dürfen, damit das Ertasten möglich bleibt“, erzählt Chrzanowski. Gleichzeitig sollten die fühlbaren Illustrationen die Fantasie anregen – so lassen sich beim Palast von Ninive Ornamente und Zinnen ertasten und Türen öffnen; dahinter erscheinen dann Menschen und Tiere. „Bei der Gestaltung des Palastes haben wir extra im Roemer- und Pelizaeus-Museum angefragt, um alles richtig zu machen“, erzählt Chrzanowski. Jona selbst wandert als kleine Figur durch das Buch und wer mag, kann ihn im Bauch des Wals verschwinden lassen.

Möglich wurde die Herstellung eines Prototyps und einer Serie von zunächst 200 Exemplaren der Fühlbibel durch Kollektenmittel, die das Zentrum für Seelsorge und Beratung zur Verfügung stellte; außerdem flossen Gelder der Helmut-Kreutz-Stiftung und eine große private Spende in das Projekt. Ein QR-Code führt zu einer Hörfassung der Jona-Geschichte; Schulen und Kitas erhalten mit dem Kauf des Buches für 60 Euro zudem pädagogisches Begleitmaterial. 

Angela Grimm, Direktorin des ZfSB, war nach einer kurzen Vorstellung des inklusiven Buches im Zentrum für Seelsorge und Beratung begeistert: „Die Fühlbibel ist bildlich, haptisch und textlich wunderbar gelungen“, stellte sie fest.