„Schön, dass du da bist“

Nachricht Hannover, 06. Juni 2023

Jugendwerkstätten der Diakonie bieten Schulabbrechern neue Chancen

Teilnehmerin Zeliha A. und Fachanleiter Thomas Müller versorgen bei Juniver Jugendliche und Mitarbeitende mit einem Mittagessen. Foto: Sabine Dörfel

„Für ganz viele Jugendliche passt die Schule als Bildungssystem“, sagt Nicolas Semeth, Bereichsleiter bei Pro Beruf. „Doch für einige hat sie nicht das richtige Angebot und für diese Jugendlichen muss es Alternativen geben.“ Einige, das sind zurzeit rund 50.000 junge Männer und Frauen in Deutschland, die keinen Schulabschluss haben, in Niedersachsen sind es knapp 5000. Schulabbrecher werden sie in Statistiken genannt, Alina, Maik, Khaled oder Sarah (Namen geändert) heißen sie in der Jugendwerkstatt Vahrenheide, wo sie versuchen, in zehn Monaten das unmöglich Scheinende zu schaffen: trotz ihrer Mutlosigkeit und Leistungsängste, ihrer Konzentrationsstörungen, Depressionen oder Lernschwächen den Hauptschulabschluss nachzuholen. 

Und sie schaffen es. „Im Schnitt 18 der 22 jungen Menschen in unserer Werkstatt melden sich zur Hauptschul-Abschlussprüfung an, etwa 15 bestehen sie jährlich“, berichtet Semeth. „Und das, nachdem viele von ihnen jahrelang keine Schule mehr betreten haben, Ordnungsstrafen wegen schulischer Fehlzeiten drohten oder sie mit psychiatrischen Diagnosen lange Krankheitszeiten hatten.“ Was ist anders in der Jugendwerkstatt Vahrenheide als in einer herkömmlichen Schule? Zunächst seien da die beiden kleinen Lerngruppen  von je elf Teilnehmenden, zählt Semeth auf. Dann gibt es zu gleichen Teilen Unterricht in Fächern wie Deutsch, Mathe, Politik oder Biologie sowie ein Praxisangebot im Bereich Hauswirtschaft oder Mode und Design. Vier Fachanleitende und zwei SozialpädagogInnen kümmern sich um die jungen Menschen zwischen 16 und 20 Jahren. 
„Persönliche Wertschätzung und Akzeptanz sowie das Gemeinschaftsgefühl in der Gruppe sind die hauptsächlich wirksamen Faktoren unserer Pädagogik“, berichtet Semeth. „Wir arbeiten sehr basal, versuchen, das Gefühl zu vermitteln ‚Schön, dass du da bist, so wie du gerade bist‘. Ob pünktlich oder zu spät, antriebsschwach oder energiegeladen, kontaktscheu oder stets der Klassenclown, ‚du bist hier willkommen‘.“  Die intensive „Beziehungs-Arbeit“ mit den Jugendlichen stelle hohe Anforderungen an die Betreuenden, weiß der Bereichsleiter, gerade auch durch gemeinschaftsbildende Aktivitäten wie eine einwöchige Gruppenfahrt, gemeinsames Klettern, Schwimmen oder Projektarbeit. „Doch verlässliche und wertschätzende Beziehung ist das, was den jungen Menschen fehlt und was ihnen hilft, aus Resignation, Minderwertigkeitsgefühlen oder aggressiv-depressiven Verhaltensmustern herauszukommen“, stellt der Pädagoge fest.    

Schulabbruch sei lediglich das Symptom tieferliegender Problematiken ist Semeths Erfahrung. „Keine und keiner bei uns hat nur eine Problemlage wie beispielsweise eine Lernschwäche, ein schwieriges Elternhaus oder ein auffälliges Sozialverhalten. Das kann manchmal in der Schule durch Sozialarbeit, PsychologInnen oder die oft sehr engagierten LehrerInnen  aufgefangen werden“, sagt der Bereichsleiter. „Unsere Jugendlichen stecken in multiplen Problemlagen und der Schulabbruch war für viele eine kurzfristige Notlösung bei einem zu hohen Problemdruck. In das Schulsystem, das Fehlzeiten auch ordnungsrechtlich verfolgen muss, kehren dann viele nicht wieder zurück.“  Anja Holmer, Geschäftsführerin von Pro Beruf, weist auf die präventive Arbeit von Jugendwerkstätten hin. „Wenn die gesellschaftliche Integration junger Menschen bereits in einem frühen Stadium scheitert, entstehen hohe Kosten, die kaum wieder aufzuholen sind“, sagt Holmer. „Es ist eine Probe für den Sozialstaat, ob er auch benachteiligten Menschen die Chance auf Bildung und Erwerbstätigkeit geben kann.“

Dass die diakonische Jugendwerkstatt Vahrenheide die Möglichkeit anbietet, den Hauptschulabschluss nachzuholen, ist ein besonderes Merkmal der von der Tituskirche gegründeten Einrichtung. Ebenso zum Hauptschulabschluss führen noch zwei weitere Pro-Beruf-Maßnahmen, die als „Zweite Chance“ insgesamt 43 junge Menschen auf die Prüfung vorbereiten.  Weitere Angebote zur Orientierung oder der Schulpflichterfüllung finden Schulabbrecher aber auch in anderen diakonischen Jugendwerkstätten wie Juniver, Sina oder die Jugendwerkstatt Garbsen. Bei Juniver beispielsweise arbeiten die Jugendlichen in Bereichen wie Handel, Büro, Handwerk, Soziale Dienste, Event oder Gastronomie praktisch und werden von SozialpädagogInnen und Fachanleitenden unterstützt. „Besonders motivierend ist es, wenn alle Praxisbereichen bei Projekten zusammenarbeiten wie beispielsweise bei unseren stark nachgefragten Autorenlesungen“, sagt Geschäftsführerin Helia Geller-Fehling. Motivation ist das Schlüsselwort bei Jugendlichen, die nicht mehr zur Schule gehen. Ebenso wie „Zuwendung und persönliche Bindung“ weiß Geller-Fehling.

Sie ist besorgt, weil „sich seit Corona eine gesellschaftlich alarmierende Entwicklung verstärkt hat“. Jugendliche in instabilen Situationen zögen sich massiv zurück, „sie trauen sich manchmal kaum aus dem Haus, geschweige denn, zur Schule zu gehen oder auch Hilfsangebote aufzusuchen“, beobachtet Geller-Fehling. „Wir reagieren darauf mit aufsuchender Arbeit, gehen zu den Jugendlichen nach Hause, holen sie zur Arbeit ab.“  Der Bedarf an unterstützenden Angeboten für schulmüde und sozial nicht integrierte Jugendliche sei stark gestiegen, stellt die Geschäftsführerin fest. Hier sei die Gesellschaft gefordert. „Wir können diese jungen Menschen nicht verloren geben, unsere Gesellschaft braucht sie“, sagt Geller-Fehling. „Wir als diakonische Jugendwerkstätten übernehmen mit unserer Arbeit dafür die Verantwortung, dass sie sich nicht selbst verloren geben.“

Information: Jugendwerkstätten werden in ihrer Arbeit finanziell gefördert, hauptsächliche Geldgeber sind unter anderem der Europäische Sozialfonds und das Land Niedersachsen, weitere Förderung geschieht durch kommunale und diakonische Mittel sowie das Jobcenter.