Zu „Selbstversorgern im Glauben“ werden

Nachricht 16. März 2020

Gottesdienst mit Corona-Schutzmaßnahmen in der Marktkirche

Gottesdienst in der Marktkirche
Marktkirchenküsterin Estina Stein desinfiziert die Hüllen der Gesangbücher. Foto: Sabine Dörfel


Normalerweise kommt Gilta Machleidt zum Gottesdienst in die Marktkirche, nimmt sich ein Gesangbuch aus dem Regal und sucht dann ihren Platz in einer der vorderen Reihen. Doch der heutige Sonntag ist kein normaler Tag. Gleich am Eingang hat Küsterin Estina Stein einen Tisch mit rund hundert Gesangbüchern aufgebaut. Sie trägt weiße Gummihandschuhe, neben ihr steht eine Flasche mit Desinfektionsmittel. So wie Machleidt überreicht sie jedem Gottesdienstbesucher eines der blauen Bücher, deren Plastikhülle sie zuvor gründlich abgesprüht hat. Wer will, erhält zusätzlich noch einen Spritzer Desinfektionsflüssigkeit direkt in die Hand.
Es ist Tag drei nach der Empfehlung des hannoverschen Landesbischofs Ralf Meister, in den Kirchen keine Gottesdienste mehr zu feiern. Zu groß sei das Risiko der weiteren Verbreitung des Coronavirus, heißt es darin. Auch Chorproben, Konzerte und alle weiteren Gemeindeveranstaltungen sollen bis Mitte April ausfallen. Die Marktkirche feiert an diesem 15. März dennoch einen Gottesdienst. „Wir haben gründlich abgewogen“, sagt Marktkirchenpastorin Hanna Kreisel-Liebermann. „Als zentrale Stadtkirche haben wir eine besondere Bedeutung. Der Gottesdienst ist ein Signal, dass wir für die Menschen da sind. Gleichzeitig wollen wir prüfen, wie das Angebot aufgenommen wird.“ Rund siebzig Menschen haben sich heute in der Kirche versammelt, an anderen Sonntagen kämen etwa hundert, sagt die Pastorin. Über mögliche weitere Gottesdienste werde der Kirchenvorstand in den nächsten Tagen entscheiden.
Machleidt ist zwiegespalten. Einerseits sei es richtig, große Veranstaltungen wie etwa Fußballspiele abzusagen, andererseits bräuchten die Menschen gerade jetzt Trost und geistliche Unterstützung, sagt die hannoversche Kinderärztin. Dass die Marktkirche heute die Stuhlreihen weiter auseinandergerückt hat und auf jedem zweiten Sitz ein Schild mit der Aufschrift „Bitte lassen Sie diesen Platz frei“ liegt, findet sie „sehr gut organisiert“. Sogar das Ehepaar Anke und Kai Henschel lässt zwischen sich einen Stuhl frei. „Zu Hause sitzen wir natürlich zusammen, aber hier wollen wir uns an die Vorgabe halten“, sagt Bauingenieur Henschel. Sie haben im Internet nach Gottesdiensten gesucht, die noch stattfinden, und dafür den Weg aus Celle auf sich genommen. „Ohne Gottesdienst würde mir etwas fehlen“, sagt Lehrerin Anke Henschel, die im Nebenberuf Organistin ist und aufgrund der Schließung ihrer Kirche frei hat. Eine Ansteckung fürchten die beiden nicht, doch „das Desinfizieren der Gesangbücher ist schon etwas unheimlich“, gibt Anke Henschel zu.
Herausfordernd, aber notwendig nennt der amtierende Stadtsuperintendent Thomas Höflich die zunehmenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens. In seiner Predigt erinnert er an die gesellschaftliche Verantwortung füreinander. Besonders Menschen, die in Krankenhäusern und anderen Versorgungsberufen arbeiteten, müssten gesund bleiben. Wenn Kirchen keine Gottesdienste mehr anböten, seien andere Andachtsformen gefragt. „Wir müssen jetzt zu Selbstversorgern im Glauben werden“, sagt Höflich und fragt: „Können wir noch Hausandachten feiern so wie unsere Großeltern?“  Doch es gebe auch neue digitale Gottesdienstformate wie podcasts, Youtube- oder Internetangebote. Und er spricht sich dafür aus, die Marktkirche geöffnet zu halten, auch wenn keine weiteren Gottesdienste mehr stattfinden sollten.
Den Segen erteilen Kreisel-Liebermann und Höflich zusammen und als Organist Ulfert Smidt den letzten Orgelton verklingen lässt, ist es für einen Moment still in der Kirche. Dann applaudieren die Menschen und die zuvor dichte Stimmung  des Gottesdienstes löst sich. Gestärkt fühle sie sich, sagt Machleidt und nicht allein, obwohl rund um sie herum fast alle Plätze leer gewesen waren. Anke Henschels Augen leuchten. Ulfert Smidts ausdrucksvolles Spiel des Präludiums in h-Moll von Johann Sebastian Bach ist ihr zu Herzen gegangen und sie ist froh über die Feier des Gottesdienstes, auch ohne Abendmahl. In kleinen Grüppchen stehen die Menschen anschließend noch zusammen, auch Pastorin Kreisel-Liebermann und Superintendent Höflich müssen die „bewegende, ein bisschen fremde, aber schöne“ Atmosphäre dieses Gottesdienstes noch ausklingen lassen. Doch nicht lange, dann kommen schon wieder neue Besucher in die Kirche, setzen sich in die Bankreihen oder schlendern schauend umher. Noch sind sie wie immer offen, die Türen der Marktkirche.
 

Sabine Dörfel/Öffentlichkeitsarbeit des Stadtkirchenverbandes Hannover